Unser Projekt

Gesamtprojekt

Notfalllagen verunsichern die Bevölkerung. Sie verändern den Alltag umso stärker, je schwerer und länger sie sind. Insbesondere omnipräsente Notfälle mit dynamischem Verlauf erfordern Maßnahmen, die die gesamte Bevölkerung erfassen. Bei länger anhaltenden Notfalllagen treten Notfallgesetze und -verordnungen in Kraft, die Eingriffe in die Grundrechte der Menschen vorsehen. Die Durchsetzung der grundrechtseinschränkenden Normen obliegt hoheitlichen Trägern und ist von der Akzeptanz weiter Teile der Bevölkerung abhängig. Diese Akzeptanz kann bei länger anhaltenden Notfällen schwinden. Infolgedessen können sie die Autorität des Staates und das Vertrauen in seine Organe erschüttern und zu einer generellen Legitimationskrise führen.

Die Corona Pandemie stellt einen solchen Notfall dar. Die legitimierende Kraft durch die Evidenz des Notfalls schwindet in ausgedehnten Notfalllagen und zu Primärschäden (z.B. Krankheit, Tod), die direkt durch den Notfall verursacht werden, kommen Sekundärschäden (z.B. Vereinsamung) hinzu. Die Betroffenheit und Verletzlichkeit ist dabei sozial verschieden verteilt und die Lageentwicklung ist ungewiss. Vor diesem Hintergrund werden behördliches Handeln, politische Entscheidungen und die Durchsetzung der Maßnahmen zur Notfallbewältigung in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig.

Die Fluidität des Wissens, immer neue Erkenntnisse, eine Vielzahl von beteiligten Akteuren sowie die Stimmung in den (sozialen) Medien fordern die Glaubwürdigkeit von Politik und Wissenschaft heraus. In ausgedehnten Notfalllagen sind demokratische Gesellschaften jedoch auf eine hohe Akzeptanz und die selbstmotivierte Einhaltung von Maßnahmen durch die Bevölkerung zur Krisenbewältigung angewiesen. Der Wandel der wechselseitigen Bedingungen von Akzeptanzbedarf und Legitimationsanforderungen in einem ausgedehnten Notfallgeschehen ist in seiner Logik und Dynamik bisher kaum erforscht. Das aktuelle Pandemiegeschehen bietet demnach eine Möglichkeit, die Aushandlungsprozesse zwischen staatlichem Sicherheitshandeln und Akzeptanz auf Seiten der Bürger:innen zu untersuchen.

Ziel des Verbundprojekts ist es, erstens eine systematische Analyse zum Pandemiegeschehen als dynamische Notfalllage vorzulegen und zweitens auf Basis dessen Orientierungswissen für Behörden und Organisationen im Sicherheitsbereich zur (lokalen) Ausgestaltung von Maßnahmen und zur Risikokommunikation in Notfällen zu gewinnen. Auch wenn die gegenwärtige Pandemie die empirische Basis der Forschung darstellt, möchte der Verbund drittens allgemeine Grundsätze im Umgang mit Notfalllagen entwickeln.


Mit diesen Zielsetzungen erstreckt sich das Verbundprojekt auf folgende Untersuchungsfelder.

  1. Die generelle Rahmung des Notfalls durch die Rechtsentwicklung, die parlamentarische Ebene sowie die rechtlichen Spielräume für die kommunale Ebene zur Umsetzung von Notfallverordnungen,
  2. Die öffentlichen Diskussionen um Notfall und Notfallmaßnahmen, die an spezifischen Beispielen (Maskentragen, Soziale Distanzierung, Tracing-App; Impfung) systematisch verfolgt wird,
  3. Die Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung, die über das Verhältnis und Handeln von Polizei, kommunalen Ordnungsdiensten und privaten Sicherheitsdiensten in Notfalllagen erschlossen wird sowie
  4. Die kommunale Umsetzung und lokal operierende Akteure des Katastrophen- und Bevölkerungsschutzes.

Arbeitspakete

Die Untersuchungsfelder erforschen die Partner:innen in vier Arbeitspaketen.

Arbeitspaket 1: Verfassung des Notfalls

Das Arbeitspaket 1, „Verfassung des Notfalls“, wird von der Universität Bielefeld bearbeitet und untersucht die rechtlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen der Legitimation des Normal- und des Notfalls einschließlich des durch den Notfall notwendig werdenden Rechtswandels. Der Notfall führt zu neuen Erwartungen an und Herausforderungen für den Staat und die Gesellschaft. Da er teils erhebliche Eingriffe in Grundrechte begründet, ist die Ausrufung des Notfalls ebenso legitimationsbedürftig wie die Ausübung der Notmaßnahmen selbst. Eine maßgebliche Quelle, Grundlage und zugleich Grenze von Legitimation ist auch das Recht – Ausnahmesituationen in Notfällen sind keine Ausnahmesituationen vom Recht, sondern im Recht. Hier wirken sie jedoch als Stresstest von Demokratie und Verfassung.

Das Arbeitspaket 1 untersucht dazu, welche Bedingungen das Recht zur Legitimationsbeschaffung bereithält und voraussetzt –für Gesetze durch die Legislativen und für die Legitimation der auf deren Grundlage ergehenden Einzelfallentscheidungen durch Exekutiven und Gerichte. Im Notfall können diese Vorgaben nicht oder nur partiell eingehalten werden; durch die Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit des Geschehens können die Gesetze ihre Steuerungswirkung nicht in gleichem Maße wie in der Normallage entfalten. In der Folge vermindern sich die Leistungen der parlamentsvermittelten Legitimationsleistung und die Notwendigkeit ihrer (verstärkten) Ergänzung durch andere Legitimationsbeschaffungsformen, welche vor dem Hintergrund der grundgesetzlichen Vorgaben analysiert werden sollen. In diesem Zusammenhang stellen sich insbesondere Fragen zu Flexibilität und Grenzen des Gewaltenteilungssystems sowie neuen notfallspezifischen Akzeptanzbeschaffungsstrategien zwischen Expertokratie und Deliberation.

Die Ergebnisse der rechtswissenschaftlichen Untersuchung sollen schließlich mit den (sozialwissenschaftlichen) Erkenntnissen der anderen Arbeitspakete abgeglichen werden, um Orientierungswissen für Behörden und Organisationen im Sicherheitsbereich zur Ausgestaltung von Maßnahmen und zur Risikokommunikation in Notfällen zu gewinnen.

Arbeitspaket 2: Öffentlichkeit im Notfall

Das forschungsbezogene Vorhaben von Arbeitspaket 2 besteht darin, Muster sowohl der behördlichen, politischen und wissenschaftlichen Legitimation als auch der öffentlichen Kritik einschlägiger Maßnahmen (z.B. Maskenpflicht) und damit verknüpfter Legitimitätserwartungen (etwa: dokumentierte Wirksamkeit von Maßnahmen) im Verlauf der Covid-19-Pandemie herauszuarbeiten. Ausgangspunkt ist dabei die Prämisse, dass Legitimität als Anerkennungswürdigkeit eines Gemeinwesens (Sarcinellli/Habermas) wesentlich mit einem Recht auf Rechtfertigung (Rainer Forst) der von politischen Entscheidungen Betroffenen verknüpft ist. „Legitimität“ als wesentliches Ziel demokratisch fundierter Entscheidungen und ihrer Umsetzung, so die Annahme, hängt also zusammen mit der Frage, wie diese argumentativ hergestellt wird.

Über den Rückgriff auf die empirische Legitimitätsforschung wird dazu rekonstruiert, wie einschlägige Maßnahmen der Pandemiebewältigung gegenüber der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden (etwa: „Die Maßnahme X ist notwendig“) und die betroffene Bevölkerung ihre diesbezügliche Befürwortung, aber auch Kritik zum Ausdruck bringt. Die Erhebung und Typisierung dieser Legitimationsmuster, aber auch des Zusammenhanges von Legitimation und Kritik, erfolgt über eine wissenssoziologische Diskursanalyse. Abgerundet wird die Diskursanalyse durch eine Sekundäranalyse der Covid-19 bezogenen Studienlage zu etablierten Legitimitätsindikatoren (etwa: Akzeptanz von Maßnahmen) und Legitimitätsfaktoren (etwa: insitutionelles Vertrauen), um die Diskursanalyse auf einschlägige Phasen der Pandemie zu konzentrieren (etwa: Konjunktur des Protestgeschehens im Frühjahr 2022). Abgerundet wird das Forschungsdesign über eine qualitative Fallstudie (Ethnographie und/oder Gruppendiskussionen) mit dem Ziel, einen ausgewählten Konflikt um einschlägige Maßnahmen (etwa: einrichtungsbezogene Impfpflicht) zu rekonstruieren. Das abschließende, anwendungsbezogenes Ziel des Arbeitspaktes ist es, sowohl „gelungene“ als auch „problematische“ Formen der Risiko- bzw. Krisenkommunikation in Bezug auf die Rechtfertigung von Maßnahmen herauszuarbeiten.

Arbeitspaket 3: Vertrauen in Sicherheitsakteure im Notfall

Arbeitspaket 3 thematisiert die Voraussetzungen zur Einhaltung von Notfallregularien. Damit verbunden ist die Frage, ob darauf zurückgehende Freiheitseinschränkungen in unterschiedlichen Notfallszenarien akzeptiert werden oder nicht. Zum einen geht es darum zu erfassen, inwieweit das Auftreten von Autoritäten, die für die Maßnahmendurchsetzung verantwortlich sind, und die Wahrnehmung von Fairness mit der Legitimation von Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben verknüpft ist. Zum anderen wird untersucht, ob das Vertrauen in Sicherheitsakteure mit dem Einhalten von neu erlassenen Regelungen und Gesetzen und der Kooperationsbereitschaft von Menschen in Notfällen zusammenhängt. Ein wichtiges Ziel des Teilvorhabens ist es daher zu analysieren, warum Menschen Anordnungen von Sicherheitsakteuren in Notfallszenarien befolgen. Hierbei wird zwischen hoheitlichen und privaten Trägern und nach Normalfall/Notfall differenziert.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage beinhaltet Arbeitspaket 3 die methodische Konzeptualisierung, Durchführung und Auswertung einer quantitativen Online-Vignettenbefragung. Aus den Ergebnissen sollen Handlungsempfehlungen für die Praxis von Sicherheitsakteuren zu Notfallprozessen und -kommunikation herausgearbeitet werden.

Arbeitspaket 4: Entscheidungsprozesse im Notfall

Das interdisziplinäre Arbeitspaket 4 bearbeiten die Teams der Universitäten Tübingen, Freiburg und Bielefeld gemeinsam. Das Forschungsinteresse liegt auf der kommunalen Bewältigung ausgedehnter Notfalllagen. Die Corona-Pandemie als ausgedehnte Notfalllage hat nicht nur Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) in neuer Weise gefordert, sondern betraf kommunale Verwaltungen insgesamt. Auf welche Notfallpläne und -strategien hierbei zurückgegriffen wurde, wie die Notfallbewältigung an die hohe Dynamik der Pandemie angepasst und wie die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren organisiert wurde, ist Gegenstand des Arbeitspakets 4. Die Pandemie hat nahezu alle Gesellschaftsteile und Lebensbereiche erfasst und Eingriffe in den Alltag der Menschen durch Maßnahmen zur Krisenbewältigung nötig gemacht. Kommunale und lokale Akteure waren daher aufgerufen, Entscheidungen im Rahmen des Notfallhandelns zu legitimieren und gesellschaftliche Akzeptanz und Vertrauen in der Bevölkerung herzustellen.

Anhand von Expert:inneninterviews und Fokusgruppen werden in Arbeitspaket 4 kommunale Prozesse der Notfallbewältigung und Entscheidungsprozesse untersucht. Das Anliegen ist es, die Ergebnisse in Handlungsempfehlungen für Kommunen zu übersetzen. Die Empfehlungen zielen auf die Förderung der Akzeptanz von Notfallmaßnahmen in der Bevölkerung sowie auf die Entwicklung von Good-practice-Beispielen kommunaler Notfallbewältigung. Die assoziierten Partnern des Verbundprojekts werden das Forschungsteam nicht nur beim Feldzugang unterstützen, sondern den Forschungsprozess durch ihre Expertise und die Perspektive der Praxis begleiten.

Arbeitspaket 5: Kommunikation und Verbreitung der Projektergebnisse

Arbeitspaket 5 dient der Kommunikation mit Praxispartnern, der Abstimmung zwischen den Forschungspartnern und der Aufbereitung und Verbreitung der Projektergebnisse. Die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen für die Praxis sollen in verschiedenen Formaten und Kontexten präsentiert werden. Der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis steht hierbei im Vordergrund.